Konsequente Gentechnik-Regulierung ist Voraussetzung für zukunftsfähige Land- und Lebensmittelwirtschaft in Europa
Berlin, 5.7.2023
Den offiziellen Gesetzentwurf (Legislativvorschlag) der EU-Kommission zur künftigen Regulierung gentechnisch manipulierter Pflanzen kommentiert BÖLW-Vorstandsvorsitzende Tina Andres:
“Die EU-Kommission lässt sich von der Gentechnik-Lobby den Kurs diktieren und ignoriert damit die Wünsche der Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie die Bedürfnisse von Züchtung, Bauernhöfen und Unternehmen in Verarbeitung und Handel. Die willkürliche Abschaffung jeglicher Risikoprüfung für die meisten gentechnisch veränderten Pflanzen widerspricht der Wissenschaft und dem Vorsorgeprinzip als zentralem Eckpfeiler des europäischen Umwelt- und Verbraucherschutzrechts.
Gentechnik widerspricht den Grundprinzipien von Bio. Die Kommission hat die klare Position der Bio-Bewegung erkannt, auch künftig bleibt Gentechnik in der ökologischen Produktion ausgeschlossen. Weil die Kommission aber die Pflicht zur durchgängigen Kennzeichnung gentechnisch manipulierter Pflanzen und Produkte von der Züchtung bis zum Endprodukt abschaffen will, bürdet sie die hohen Kosten für die Verhinderung von Gentechnik-Verunreinigungen vollständig der ökologischen Land- und Lebensmittelwirtschaft auf. Damit wird das Verursacherprinzip auf den Kopf gestellt. Auch die bewährten Haftungsregeln für Schäden durch Gentechnik-Pflanzen in Deutschland stehen durch den Vorschlag der EU-Kommission in Frage. Es soll auch keine EU-weit gültigen Vorgaben für Schutzmaßnahmen der Gentechnik-Anwender gegen derartige Kontaminationen geben, diese Verantwortung wird komplett auf die EU-Mitgliedstaaten abgeschoben. Gleichzeitig wird mit dem Gesetzentwurf deren Souveränität untergraben: Deutschland oder auch die Bundesländer sollen die Freisetzung neuer Gentechnik-Organismen nicht mehr unterbinden dürfen.“
Tina Andres weiter:
„Neue Gentechnik ist vor allem das Werkzeug zur Patentierung von Pflanzen und damit zur Schaffung neuer Abhängigkeiten der gesamten Lebensmittelwirtschaft von den Gentechnik-Konzernen. Diese Problematik wird trotz klarer Warnungen aller relevanten Verbände von der EU-Kommission ignoriert. Für die Bewältigung von Klimakrise und Artensterben brauchen wir eine grundlegende Transformation von Lebensmittelproduktion und Ernährung, keine unerfüllbaren Technologie-Heilsversprechen. Leitbild dafür ist Bio. Nachdem die EU-Kommission sich heute endgültig als willfähriger Erfüllungsgehilfe der Gentechnik-Lobby geoutet hat, sind jetzt die Mitglieder des Europaparlaments und die Bundesregierung gefordert, ihrer vom Bundesverfassungsgericht betonten „besonderen Verantwortung“ bei der Gentechnik-Regulierung gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern und unserer Umwelt gerecht zu werden. Die Menschen wollen selbst entscheiden, was sie essen! Jetzt wird sich zeigen, wer sich wirklich für die Interessen und die Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger einsetzt oder wer stattdessen die Gentechnik-Konzerne und ihre Patent-Pläne protegiert.“
Hintergrund
Inhalt des Gesetzentwurfs sind Regelungen für die Anwendung neuer Gentechnikverfahren wie z. B. CRISPR-Cas. Mit diesen Verfahren sind tiefe Eingriffe in das Genom von Lebewesen möglich, auch weil diese Techniken mehrfach und gleichzeitig an vielen verschiedenen Genen angewendet werden können.
Der Vorschlag sieht eine Verordnung vor, also einen Rechtsakt, den alle EU-Länder in vollem Umfang umsetzen müssen. Die bisherige Rechtsgrundlage für die Gesetzgebung zu gentechnisch veränderten Organismen (GVO) ist die Richtlinie 2001/18/EG („Freisetzungsrichtlinie“), die von den Mitgliedstaaten der EU in nationale Gesetze übertragen werden musste (in Deutschland das Gentechnikgesetz, GenTG).
Das Europäische Parlament und der Rat der Regierungen aller EU-Mitgliedstaaten können zu dem von der Kommission heute vorgelegten Entwurf (in der EU-Terminologie „Legislativvorschlag“) Änderungsvorschläge formulieren und mit der Kommission in Dreieckverhandlungen („Trilog“) einen finalen Gesetzentwurf entwickeln, der abschließend vom EU-Parlament beschlossen oder abgelehnt wird.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfs:
Pflanzen, die mit neuen Gentechniken entwickelt werden, sollen künftig in zwei verschiedene Kategorien eingestuft werden:
Kategorie 1:
NGT-Pflanzen, die angeblich „gleichwertig“ zu konventionellen Pflanzen sein sollen. Die im Vorschlag aufgeführten Kriterien für diese „Gleichwertigkeit“ sind aber nicht wissenschaftlich begründet: So darf laut Kommissionsvorschlag an bis zu 20 Stellen im Genom der Zielpflanze “eine beliebige Zahl” von Gen-Bausteinen entfernt werden, ohne dass eine Risikoprüfung oder Kennzeichnung erforderlich sein soll – theoretisch könnten damit also sämtliche Gene abgeschaltet werden. Für den Vergleich mit anderen Pflanzen und insbesondere die gesundheitliche und ökologische Risikoabschätzung wäre neben der Zahl von Veränderungen auch die veränderte Eigenschaft (z. B. Toxin-Produktion o. ä.) relevant, diese wird im EU-Vorschlag aber gar nicht erfasst.
NGT-Pflanzen der Kategorie I sollen KEIN Zulassungsverfahren und damit auch keine Risikoprüfung (mehr) durchlaufen müssen, sie müssen nur „angemeldet“ und in einem öffentlich zugänglichen Verzeichnis erfasst werden. Diese Pflanzen und ihre Produkte werden in der Wertschöpfungskette (und damit auch am Endprodukt) auch nicht mehr gekennzeichnet. Nur das Saatgut soll als „NGT“ gekennzeichnet werden müssen.
Angesichts der sehr breit gewählten Kriterien für die Einstufung in diese Kategorie kann/muss davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der künftigen NGT-Pflanzen in die Kategorie I fallen wird.
Kategorie 2:
Alle anderen NGT-Pflanzen sollen ein „angepasstes“ Zulassungsverfahren einschließlich Risikoprüfung durchlaufen und werden auch weiterhin als Gentechnik-Produkte gekennzeichnet. Allerdings sind im Vergleich zum bisherigen Verfahren „Erleichterungen“ vorgesehen. Grundsätzlich soll eine umfassende Risikobewertung auch nur noch erforderlich sein, wenn es vorab „plausible Hinweise“ auf Risiken gibt (Anhang II). Dabei wird im Verordnungstext allerdings nur auf die konkret „beabsichtigten“ Veränderungen abgestellt. Mögliche unbeabsichtigte Veränderungen in Genom oder Stoffwechsel würden damit gar nicht mehr untersucht werden, obwohl erfahrungsgemäß gerade aus ihnen Gefahren für Mensch oder Umwelt entstehen können. Auch das Monitoring möglicher Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit soll deutlich reduziert werden. Und die im bisherigen Gentechnikrecht verankerte Pflicht zur Vorlage eines praxistauglichen Nachweisverfahrens soll für NGT-Pflanzen entfallen können, wenn der Antragsteller „belegen“ kann, dass ein derartiger Nachweis technisch nicht möglich sei. Wie konkret dieser „Beleg“ erfolgen soll, steht im Vorschlag nicht.
Insgesamt würde es nach diesem Vorschlag also künftig drei unterschiedliche Gentechnik-Regelungen im Bereich Land- und Lebensmittelwirtschaft geben:
Die bisherigen Regeln für „alte“ Gentechnik mit Fremd-Genen („Transgenesis“)
Regelungen für NGT-Pflanzen der Kategorie I
Regelungen für NGT-Pflanzen der Kategorie II
Für die Land- und Lebensmittelwirtschaft ist das ein bürokratischer Alptraum.
In der ökologischen Produktion sollen alle drei Kategorien von Pflanzen/Produkten (weiterhin) ausgeschlossen/verboten sein (Artikel 5). Schon heute müssen Bio-Betriebe und Unternehmen einen hohen Aufwand betreiben, um gentechnische Verunreinigungen in ihren Produkten zu verhindern. Bisher ist das, wenigstens technisch, relativ gut möglich, weil das aktuelle Gentechnikrecht vorschreibt, dass für alle Gentechnik-Organismen vor der Zulassung zum Anbau oder Import Nachweisverfahren vorgelegt werden müssen, die für Analysen von Rohwaren oder Endprodukten genutzt werden können. Da diese Pflicht für Gentechnik-Pflanzen der Kategorie 1 und möglicherweise sogar für Pflanzen der Kategorie 2 entfallen würde, erhöht sich der Aufwand für Bio-Betriebe und -Unternehmen noch mehr. Den Mehraufwand für die ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft hat die EU-Kommission in ihrer Folgenabschätzung für den Gesetzentwurf explizit bestätigt.
Im deutschen Gentechnikgesetz ist aktuell eine gesamtschuldnerische Haftung für mögliche Schäden durch Gentechnik-Kontaminationen verankert (§ 32). Das bedeutet, dass Betriebe, die selbst ohne Gentechnik wirtschaften, bei Verunreinigungen nicht einzeln nachweisen müssen, von welchem Betrieb mit Gentechnik-Anbau genau die Verunreinigung kommt, sondern die Gentechnik-Nutzer haften gemeinsam für den Schaden. Auch diese Regelung würde mit dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Gesetz voraussichtlich ausgehebelt, weil zumindest NGT-Pflanzen der Kategorie 1 gar nicht mehr als „GVO“ gelten würden.
Kein „Opt-out“: Anders als bei bisherigen GVO sieht der Vorschlag vor, dass die EU-Staaten auf ihrem Gebiet den Anbau oder die Verwendung von NGT-Pflanzen nicht einschränken oder verbieten dürfen, die sogenannte „Opt-Out Option“ soll also für neue GVO nicht gelten (Artikel 8).
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