Bio-Branche fordert radikale Wende in der Ernährungspolitik
Berlin, 27. Oktober 2021: Anlässlich der laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grüne und FDP fordert der Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) e.V. eine radikale ökologische Wende in der Lebensmittelwirtschaft. Um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, müssen Klimaschutz und Ökonomie Hand in Hand gehen. Doch bislang ist Nachhaltigkeit für Verbraucher*innen und Unternehmen noch immer ein Nachteil.
Die Bundestagswahl ist ein Signal für Erneuerung und Aufbruch. Das Ergebnis: Nach den Sondierungsgesprächen verhandeln erstmalig auf Bundesebene SPD, Grüne und FDP über einen Koalitionsvertrag. Nun müssen die drei Parteien zeigen, dass sie das Signal der dringend notwendigen Veränderung auch ernst nehmen und anpacken.
Zentrale Rolle bei der politischen Erneuerung spielt die Ernährungspolitik. Hier waren die vergangenen Legislaturen von zahlreichen Versäumnissen geprägt. Das ist umso fataler, weil die Ernährungswirtschaft eine wichtige Säule der sozial-ökologischen Transformation ist. „Es braucht jetzt eine mutige Politik, um die Fehlsteuerung der Lebensmittelwirtschaft zu korrigieren. Nachhaltigkeit darf für Verbraucher*innen und Unternehmen nicht länger nachteilig sein“, fordert BNN-Geschäftsführerin Kathrin Jäckel. Der BNN und dessen Mitgliedsunternehmen aus den Bereichen Bio-Herstellung, Bio-Groß- und Bio-Einzelhandel fordern eine radikale Wende in der Lebensmittelwirtschaft über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, hin zu einem wirklich nachhaltigen und ökologischen System.
Der BNN fordert konkret:
- Für den dringend notwendigen Umbau der Land- und Lebensmittelwirtschaft muss die neue Regierung konkrete Ziele und ordnungspolitische Rahmenbedingungen schaffen, damit zukünftig nachhaltiges und klimafreundliches Wirtschaften für alle Unternehmen zum Standard wird. Die Unternehmen der Bio-Branche zeigen, wie nachhaltiges Wirtschaften erfolgreich funktioniert. Sie investieren in Klimaschutzmaßnahmen und internalisieren dadurch einen Großteil der entstehenden Umweltkosten. Doch dies stellt bisher einen erheblichen Wettbewerbsnachteil für die Unternehmer*innen der Bio-Branche dar. Es ist daher entscheidend, dass das System klimaschädlicher Subventionen in der Ernährungs- und Landwirtschaft beendet wird und die Kosten für umweltschädigendes Verhalten künftig die Verursacher tragen.
- Lebensmittelpreise müssen die Kosten abbilden, die durch ihre Produktion entstehen. Umweltschädigende Kosten, wie z.B. die Nitratbelastung von Grundwasser dürfen nicht länger auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Der Verzicht auf chemisch-synthetische Pestizide und Gentechnik sowie die Investition in artgerechte Tierhaltung verursachen Kosten, die bei Bio-Lebensmitteln und Naturwaren bereits weitgehend eingepreist sind. Daher sollte die Besteuerung von nachhaltig und ökologisch erzeugten Lebensmitteln und Naturwaren reduziert werden. Auf diese Weise werden insbesondere schwächere Einkommensschichten nicht höher belastet.
- Die kommende Bundesregierung muss sich für ein starkes EU-Lieferkettengesetz einsetzen. Ein solches Gesetz muss sowohl zivilrechtliche Haftungsregelungen und Sanktionen bei Missachtung von unternehmerischen Sorgfaltspflichten vorsehen als auch und umfassende umwelt- und klimaschutzbezogene Sorgfaltspflichten definieren. Da die Verantwortung nicht vor der eigenen Haustür aufhört, müssen konkrete und verbindliche internationale Regelungen und Abkommen für unternehmerisches Handeln, entsprechend der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, festgelegt werden.
- Darüber hinaus braucht es langfristig ein vollständiges Verbot chemisch-synthetischer Dünger und Pestizide in der Landwirtschaft. Der Beschluss der EU-Kommission zur Farm-to-Fork-Strategie hat hier bereits ein wichtiges und richtiges Signal gegeben. Der Ökolandbau zeigt bereits, wie Landwirtschaft ohne Glyphosat & Co. erfolgreich funktionieren kann. Doch Bio wächst nicht unter der Glasglocke. Studien zeigen, dass sich chemisch-synthetische Pestizide oder deren Abbauprodukte kilometerweit durch die Luft verbreiten und sich praktisch überall in Deutschland nachweisen lassen. Dies benachteiligt die Öko-Landwirtschaft und es schädigt unsere Umwelt. Nur durch ein vollständiges Verbot von chemisch-synthetischen Düngern und Pestiziden können wir Boden und Wasser wirksam schützen und die Artenvielfalt erhalten.
- Zusätzlich braucht es den Schutz genetischer Pflanzenvielfalt und den Erhalt vermehrungsfähigen Saatguts. In den letzten Jahrzehnten sind weltweit 75 Prozent der Nutzpflanzenarten durch den Anbau von auf Leistung und Homogenität getrimmte Hybrid-Sorten verloren gegangen. Die große Vielfalt lokal angepasster Kulturpflanzen wird durch standardisierte, nicht vermehrungsfähige Sorten ersetzt. Dies kann schwerwiegende Folgen für die Ernährungssicherheit haben, insbesondere mit Blick auf den Klimawandel. Denn die geringe genetische Vielfalt reduziert das Anpassungspotential von Pflanzen, was die Gefahr von Ernteausfällen erhöht. Abhilfe schafft hier die Züchtung von patentfreien Sorten mit natürlicher Widerstandskraft, die an vielfältige Standort- und Klimabedingungen angepasst sind und von samenfesten Sorten, die Landwirte auch selbst vermehren können. Dies ermöglicht eine nachhaltige und vielfältige Nahrungsmittelversorgung. Die aufwendige Entwicklung samenfester und standortangepasster Sorten sollte als Gemeinschaftsaufgabe künftig mit Bundesmitteln gefördert und finanziert werden.
- Die zukünftige Regierung sollte den Anteil ökologisch erzeugter Produkte in den Gemeinschaftsküchen und in anderen öffentlichen Einrichtungen mittelfristig auf deutlich über 50 Prozent und langfristig auf 100 Prozent erhöhen. Damit fördert sie nicht nur nachhaltig hergestellte Lebensmittel und betreibt so aktiven Klimaschutz, sondern sie stellt eine hochwertige Qualität des Essens und der Ernährungsumgebung in öffentlichen Einrichtungen sicher.
Aus Sicht des BNN und seiner Mitgliedsunternehmen aus der Bio-Lebensmittelwirtschaft sind die genannten Forderungen ein wichtiger Beitrag für den Schutz von Umwelt und Klima. „Die Lebensmittelwirtschaft ist für rund ein Drittel des jährlichen CO2-Ausstoßes verantwortlich. Deshalb sollten so schnell wie möglich ordnungspolitische Anreize für mehr Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwirtschaft geschaffen werden. Und zwar über die gesamte Wertschöpfungskette von der Erzeugung über die Verarbeitung bis zum Handel. Die Politik muss ihre Verantwortung für eine nachhaltige Ernährung endlich annehmen und darf sie nicht weiter auf Verbraucherinnen und Verbraucher abwälzen“, so Kathrin Jäckel.